Thomas Mann ging es ja bei Schreiben des „Felix Krull“ eher umgekehrt als Ihnen, liebe Frau Patricia Fehrle. Er begann wohl ab 1905, selbst also erst dreißigjährig, sehr engagiert mit dem Text, hatte aber mit fast achtzig Jahren einige Mühen und Krisen zu bewältigen, um den Roman endlich abzuschließen. Das Hineindenken in sein „Jugendwerk“ geriet ihm offenbar nicht so leicht. Wobei das 1954 erschienene Buch ja immer noch Fragment geblieben war und der ursprüngliche Plan, das Leben des Hochstaplers bis zu dessen späterem Aufenthalt in England weiterzuverfolgen – nach Abbüßung u.a. zweier Gefängnisstrafen – nicht verwirklicht werden konnte.
Mir wiederum geht es nochmal etwas anders, denn ich fand den „Krull“, als ich ihn als Fünfzehnjähriger erstmals las, gleich toll. Natürlich zuvorderst aufgrund gewisser Szenen, die man seinerzeit noch für ein Tabu hielt, aber vor allem auch aufgrund des locker-frech-selbstbewussten Erzähltons, obendrein in Ich-Form präsentiert. Wenn ich heute in die „Bekenntnisse“ hineinschaue, wundert mich, was man damals alles überlas, zumindest meine Rezeption betreffend. Zum Beispiel die wundersam lehrreiche und interessante Unterhaltung zwischen Graf Venosta, alias Felix Krull, und Professor Kuckuck im Speisewagen eines Zuges von Paris nach Lissabon über Natur und Kosmos, organische und anorganische Materie. Dabei entwickelt der gelehrte Paläontologe ein Weltbild, indem zwischen besagten anorganischen und organischen Stoffen keine Trennung verläuft, sondern allerorten fließender Übergang herrscht. (GKFA 12.1, S.317)
Ein anderer Protagonist – bekannt geworden unter dem Namen Hans Castorp – war bei ähnlichen Studien, welche er bei Liegekuren auf dem Balkon des Berghof-Sanatoriums betrieb, übrigens exakt zum gegenteiligen Ergebnis gelangt: „Zwischen der scheinfüßgen Amöbe und dem Wirbeltier war der Abstand geringfügig, unwesentlich, im Vergleich zwischen der einfachsten Erscheinung des Lebens und jener Natur, die nicht einmal verdiente, tot genannt zu werden, weil sie unorganisch war.“ (GKFA 5.1, S.417)
So darf ein Bildungsroman den anderen belehren – und ich selbst lerne, wie mir heute, etwa fünfzig Jahre nach meinen ersten Thomas Mann-Leseerlebnissen, immer wieder etwas Neues auffällt oder vielleicht besser gesagt „neu“ auffällt, obwohl sich den Buchstaben nach in den Texten doch kein einziges Wort veränderte. „Was ist das?“, möchte man fragen.