Danke für die ersten Beiträge im Diskussionsforum. Die beschriebenen Erfahrungen bei der Lektüre von “Felix Krull” haben mich angeregt auch wieder zu diesem Roman zu greifen und mich auf die Tagung im Juni einzustimmen.
Mein heutiger Beitrag blickt zurück auf die Thomas Mann Tage im letzten Jahr, die unter dem Motto “100 Jahre Der Zauberberg” standen. Es ist ein längerer Artikel, in dem ich versuche, Castorps Bildungsweg anhand seiner Träume nachzuzeichnen. Dieser Artikel enthält ursprünglich eine Anzahl Fußnoten, die aber beim Aufladen nicht übernommen wurden. Ich bin leider technisch nicht so versiert, dass ich das beheben könnte. Für Kommentare wäre ich dankbar.
Thomas Mann, Der Zauberberg, Castorps Träume
Die Thomas Mann Tage im September 2024 “Hundert Jahre Der Zauberberg” haben alte und neue Einsichten zum Thema der Zeitgenossenschaft dieses Romans, zur Persönlichkeitsentwicklung Hans Castorps und der Bedeutung des “Schneetraums” gebracht. In der Ausstellung “Fiebertraum und Höhenrausch”, im Lektüre-Workshop “Ein Traumgedicht von einem Menschen” und in Vorträgen über Castorps Bildung wurde deutlich, wie naheliegend, aber auch fraglich es ist, das humanistische Fazit des “Schneetraums” als den bildungsmäßigen Höhepunkt in Castorps jahrelangem Aufenthalt auf dem Zauberberg zu verstehen.
Es drängt sich die Frage auf, ob es sich lohnen würde, das Interpretationsfeld zu erweitern, und die Aufmerksamkeit auch auf andere Träume und Tagträume zu richten, von denen erzählt wird. Wie ein roter Faden läuft unter der Geschichte der Ereignisse, die von außen auf Castorp einwirken und sein Bewusstsein bestimmen, die Geschichte seiner unbewussten und unterbewussten Verarbeitung dieser Ereignisse. Es handelt sich um sechs Träume oder Traumzustände, die nach Inhalt, Länge und Tiefe sehr unterschiedlich sind und auch auf sehr unterschiedliche Weise erzählt werden. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, wie, gemäß der Traumdeutung von Freud, Castorp bzw. der Erzähler die sogenannte “Traumarbeit” leistet, indem er den latenten Trauminhalt erfasst und umsetzt in einen manifesten Traum. Freud hat dargelegt, wie der Träumende in Bildern träumt, die dann im Wachzustand erinnert werden, sich somit manifestieren.
Wenn man diese sechs Träume miteinander vergleicht, ihre Reihenfolge und ihren Zusammenhang beachtet, zeichnet sich das Bild einer Entwicklung ab, die sich gemäß Schillers Auffassung von der ästhetischen Erziehung des Menschen vollzieht. In dem Traum der ersten Nacht, die Castorp in Davos verbringt, sind die Traumbilder unzusammenhängend, “zerstückelt”, wie Freud sagt, und von kindlicher Naivität. Der Traum in der zweiten Nacht geht viel tiefer und ruft aus dem Unterbewusstsein Bilder aus der Schulzeit herauf. Sexuelle Regungen treten auf und die Angst, entdeckt zu werden. Diese sinnliche Bestimmtheit, wie Schiller sie versteht, findet ihren Höhepunkt in Castorps Traum am Wildbach, wo aus jahrelanger Verdrängung die Liebe zu Hippe wieder auftaucht. Im nächsten Traum vom “Bild des Lebens” erfolgt die Umsetzung der sexuellen Triebhaftigkeit in eine ästhetische Wahrnehmung von Schönheit, wie ein Künstler sie erfassen würde und die zu einer körperlosen Befriedigung führt. Die Überwindung des Triebhaften durch die Vernunft manifestiert sich schließlich im Schneetraum. Castorp träumt in mythologischen Bildern - von einer antiken Landschaft und einem Tempel -, die Entzücken und Grauen in ihm auslösen. Es sind die grundlegenden Empfindungen ästhetischer Erfahrung des Menschen, die Castorp als Dichter in seinem “Traumgedicht vom Menschen” umsetzt. In Castorps letztem Traum ist der Höhepunkt seiner ästhetischen Entwicklung erreicht: ohne jede triebhafte oder vernunftgemäße Bestimmtheit erlebt er sich als ein Flöte spielender, in der Natur aufgehender Halbgott.
Allererst ist die Verteilung der sechs Träume im Text bezeichnend: Der Traum der ersten Nacht am Ende des ersten Kapitels (33) , der Traum der zweiten Nacht am Ende des dritten Kapitels (139-142), der Hippe-Traum in der ersten Hälfte des vierten Kapitels (183-188), der Tagtraum vom «Bild des Lebens» in der zweiten Hälfte des fünften Kapitels (419-420; 433-434), der Schneetraum gegen Ende des sechsten Kapitels (738-745) und der Faun-Traum in der Mitte des siebten Kapitels (897-898). Es zeigt sich, dass in jedes Kapitel ein Traum eingeflochten ist, mit Ausnahme des zweiten Kapitels über Castorps Kindheit und Jugend.
Der Traum der ersten Nacht (33)
Das erste Kapitel endet mit der Erzählung von Castorps Traum; sie ist nur etwas länger als eine halbe Seite. Übermüdet von den Ereignissen des ersten Tages geht Castorp ins Bett, schläft ein und durchlebt dann im Traum, was er tagsüber gesehen und gehört hat. In einem skurrilen Durcheinander tauchen die Bilder vor ihm auf:
Aber sobald er eingeschlafen war, begann er zu träumen und träumte fast unaufhörlich bis zum anderen Morgen. Hauptsächlich sah er Joachim Ziemßen in sonderbar verrenkter Lage auf einem Bobschlitten eine schräge Bahn hinabfahren. [...] "Das ist uns doch ganz einerlei, - uns hier oben", sagte der verrenkte Joachim, und dann war er es, nicht der Herrenreiter, der so grauenhaft breiig hustete. Darüber musste Hans Castorp bitterlich weinen und sah ein, dass er in die Apotheke laufen müsse, um sich Coldcream zu besorgen. Aber am Wege saß Frau Iltis mit einer spitzen Schnauze und hielt etwas in der Hand, was offenbar ihr "Sterilett" sein sollte, aber nichts weiter war als ein Sicherheits-Rasierapparat. Das machte Hans Castorp nun wieder lachen, und so wurde er zwischen verschiedenen Gemütsbewegungen hin und her geworfen, bis der Morgen durch seine halboffene Balkontür graute und ihn weckte. (33)
An der Oberfläche von Castorps Unterbewusstsein hat sich das zeitlich und räumlich Naheliegende festgesetzt. Aber ohne Ordnung "purzeln" die Personen und Gegenstände im Traum durcheinander, wie die Stückchen eines Puzzles, die ein Bild versprechen, aber erst noch sinngemäß zusammengefügt werden müssen. Castorp reagiert im Traum wie ein Kind auf seine Erlebnisse, erst muss er «bitterlich weinen» und dann wieder lachen. Coldcream ist der Signifikant für den Verlobten der Amerikanerin, der «ganz wie ein kleiner Junge» weinen musste und sich wegen der brennenden Tränen die Backen mit Coldcream einrieb (23). Statt des Herrenreiters ist es Joachim, der so “breiig hustete” und Castorp zum Weinen bringt und gleich darauf muss er lachen über das “Sterilett” der Frau Iltis. Gemütsschwankungen zwischen Lachen und Weinen kommen auf dem Zauberberg des Öfteren vor, hier gibt Castorp im Traum damit den Auftakt. Die “krausen Traumbilder” (139) sind charakteristisch für die infantile Phase seines Unterbewusstseins. Ohne Nötigung, wie Schiller sagt - befindet er sich in einem Stadium ungehemmter Kindlichkeit.
Der Traum der zweiten Nacht. (139)
Auch die Erzählung dieses Traumes beschließt wieder ein Kapitel, - das dritte, aber sie ersteckt sich über mehr als zwei Seiten und besteht aus drei Teilen. Zuerst begegnet Castorp im Traum Hofrat Behrens, der ihn als “ehrsamen Zivilisten” anspricht und ihn begutachtet als “nicht ohne Talent” und geeignet für die “flotten Dienstjährchen bei uns hier oben”. Dieser Teil des Traumes ist noch auf skurrile Weise mit dem Tagesgeschehen verbunden, aber im zweiten Teil wird diese Oberflächlichkeit durchbrochen und in der Tiefe seines Unterbewusstseins befindet Castorp sich auf einem Schulhof, einem vertautem Raum seiner erst ungefähr zehn Jahre zurückliegenden Schulzeit. Ganz unvermittelt ist auch Madame Chauchat auf dem Schulhof, - “die ebenfalls zugegen war”- und die tagsüber bereits einen besonderen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Es folgt eine doppelte Vorausdeutung: die Szene der Bleistiftleihe, wie sie im Traum von Hippe am Wildbach erzählt werden wird und wie sie sich in der “Walpurgisnacht” tatsächlich abspielt.
Dann erschien es dem Träumenden, als befände er sichauf dem Schulhof, wo er so viele Jahre hindurch die Pausen zwischen den Unterrichtsstunden verbracht, und sei im Begriffe, sich von Madame Chauchat, die ebenfalls zugegen war, einen Bleistift zu leihen. Sie gab ihm den rotgefärbten, nur noch halblangen, in einem silbernen Crayon steckenden Stift, indem sie Hans Castorp mit angenehm heiserer Stimme ermahnte, ihn ihr nach der Stunde bestimmt zurückzugeben, und als sie ihn ansah, mit ihren schmalen graugrünen Augen über den breiten Backenknochen, da riss er sich gewaltsam aus dem Traum empor, denn nun hatte er es und wollte es festhalten, woran und an wen sie ihn eigentlich so lebhaft erinnerte. Eilig brachte er die Erkenntnis für morgen in Sicherheit, denn er fühlte, dass Schlaf und Traum ihn wieder umfingen…. (140).
Die “Sicherstellung” des Traumes, ist der Vorgang , den Freud als die Umsetzung eines Traumes vom latenten zum manifesten Traum bezeichnet, d.h. dass er erinnert werden kann und dem Erwachenden bewusst wird.
Castorp träumt von Neuem und das Bild von der Bleistiftleihe wird abgelöst von einer zeitlich im Raum des Sanatoriums liegenden Vorstellung:
… und sah sich alsbald in der Lage, Zuflucht vor Dr. Krokowski suchen zu müssen, der ihm nachstellte, um Seelenzergliederung mit ihm vorzunehmen, wovor Hans Castorp eine tolle, eine wahrhaft unsinnige Angst empfand. Er floh vor dem Doktor behinderten Fußes an den Glaswänden vorbei durch die Balkonlogen, sprang mit Gefahr seines Lebens in den Garten hinab, suchte in seiner Not sogar die rotbraune Flaggenstange zu erklettern und erwachte schwitzend in dem Augenblick, als der Verfolger ihn am Hosenbein packte.
Castorp möchte den Traum von der Bleistiftleihe festhalten und “in Sicherheit” bringen, aber die Gefahr, dass Krokowki seine wahren Gefühle entdecken könnte, versetzt ihn in “eine wahrhaft unsinnige Angst”. Er tut alles, um der “Seelenzergliederung” Krokowskis zu entfliehen und die Entdeckung seiner Neigung zu verhindern. Er findet seine Zuflucht ausgerechnet im Erklettern der “rotbraunen Flaggenstange” – auch der Bleistift war “rotgefärbt”. Aber Castorp wird von Krokowski ertappt und «erwachte schwitzend in dem Augenblick, als der Verfolger ihn am Hosenbein packte» (141).
Vom Stadium der Kindlichkeit im ersten Traum hat Castorp hier das Stadium der triebhaften Bestimmtheit (im Sinne der Schillerschen Ästhetik) erreicht, mit der er (noch) nicht umzugehen weiß und die Scham und Angst auslöst.
Nach dieser geträumten Aufregung, schläft Castorp wieder ein und im letzten Teil seines Traumes taucht Settembrini auf, wie ein Wächter, dem nicht entgangen ist, auf welchen Abwegen sich dieser junge Mann bewegt. Castorp will ihn abschieben “Sie stören!” “Fort mit Ihnen!”. Des Weiteren treten eine Reihe von Bewohnern auf, die alle “ihre verworrene Rolle” spielen. Zweimal aber träumte Castorp dasselbe, nämlich den lärmenden Auftritt von Madame Chauchat im Speisesaal. Anstatt zum Russentisch zu gehen, kommt sie zu ihm und reicht ihm das Innere ihrer Hand zum Kuss.
Da durchdrang ihn wieder von Kopf bis Fuß jenes Gefühl von wüster Süßigkeit, das in ihm aufgestiegen war, als er zur Probe sich des Druckes der Ehre ledig gefühlt und die bodenlosen Vorteile der Schande genossen hatte, - dies empfand er nun wieder in seinem Traum, nur ungeheuer viel stärker (142).
Der Leser könnte dies als Hinweis verstehen, dass Castorp sich bereits im Wachzustand in der Masturbation übte und dass er nun im Traum in den Genuß des Samenergusses kommt. In diesem Stadium seiner ästhetischen Erziehung ist Castorp noch das Opfer der Nötigung, seines sexuellen Triebes, und noch weit entfernt davon, diese Regungen vernunftmäßig zu verarbeiten, wie die ästhetische Erziehung des Menschen erfordert.
Der Hippe-Traum am Wildbach (183)
Dieser Traum ist eingebettet in den Abschnitt “Hippe” im vierten Kapitel und erstreckt sich über fünf Seiten. Castorp hat an diesem ersten Montag, dem sechsten Tag seines Aufenthalts, das Bedürfnis, auf eigene Faust einen Spaziergang zu machen – wie später auch sein “Schneeabenteuer” die Folge eines eigenwilligen Alleingangs ist.
Auf einer Bank an einem rauschenden Bach ruht Castorp sich von dem anstrengenden Anstieg aus und merkt plötzlich, dass seine Nase blutet, was “ihm wohl eine halbe Stunde lang zu schaffen [machte]”. Es ist anzunehmen, dass Thomas Mann hier die vieldiskutierte Theorie von Wilhelm Fließ, dem Freund von Sigmund Freud, aufgreift, in der Nasenbluten als Symptom sexueller Abweichungen gesehen wird.
In Vorbereitung auf die Nacherzählung des Traumes weist der Erzähler ausdrücklich auf die zeitliche und räumliche Entfernung vom Tagesgeschehen hin (183):
Da fand er sich auf einmal in jene frühe Lebenslage versetzt, die das Urbild eines nach neuesten Eindrücken gemodelten Traumes war, den er vor einigen Nächten geträumt... Aber so stark, so restlos, so bis zur Aufhebung des Raumes und der Zeit war er ins Dort und Damals entrückt, dass man hätte sagen können, ein lebloser Körper liege hier oben beim Gießbache auf der Bank, während der eigentliche Hans Castorp weit fort in früherer Zeit und Umgebung stünde, und zwar in einer bei aller Einfachheit gewagten und herzberauschenden Situation (183).
Das “Urbild” hatte im vorigen Traum, der von den neuesten Eindrücken gelenkt wurde, nur wie eine Ankündigung gewirkt, die vollständige imaginäre Verwirklichung dieses Bildes erfolgt nun im Hippe-Traum. Der Erzähler suggeriert, dass Castorp träumt, wie es wirklich war. Denn auch körperlich scheint Castorp überzuwechseln in das Dort und Damals, so dass er im Hier und Jetzt auf der Bank einem Toten gleicht. Der Erzähler motiviert auf diese Weise seinen anschließenden Diskurs, in dem das Urbild nicht durch Nachahmung der Traumwelt aufgezeichnet wird, sondern in dessen Verlauf eine "wirkliche" Episode in Castorps Leben gemäß der Allwissenheit des Erzählers entsteht:
Er war dreizehn Jahre alt, Untertertianer, ein Junge in kurzen Hosen, und stand auf dem Schulhof im Gespräch mit einem anderen, ungefähr gleichaltrigen Jungen aus einer anderen Klasse [...] (183).
In großer Ausführlichkeit wird berichtet, wie Castorp die Nähe von Hippe sucht ohne ihn bei Namen nennen zu können oder sich um “die geistige Rechtfertigung seiner Empfindungen” zu sorgen. Erst nach einem Jahr wagt er es, Hippe vor der Zeichenstunde anzusprechen und um einen Bleistift zu bitten. Nach einem weiteren Jahr aber waren seine Gefühle für Hippe verschwommen und hatte er ihn vergessen (186-187).
Diese Erzählweise zeigt keine Merkmale, die den Traumcharakter des Erzählten bezeichnen würden. Wie in einer vorbildlichen Rückwendung lassen sich Zeit und Raum genau bestimmen: der Beginn der Ereignisse liegt zehn Jahre zurück und sie fallen in eine Zeitspanne von ungefähr zwei Jahren (186); das Treiben auf dem Schulhof wird realistisch beschrieben und sogar die Herkunft von Hippes Vater aus Mecklenburg und das Fortziehen der Familie werden erwähnt.
Abgesehen von der Koppelung dieser Episode an den träumenden Zustand Castorps wird die Einbeziehung in die Gegenwartshandlung nur auf der Bedeutungsebene durch eingestreute Signifikanten hergestellt. Es wird von Zeichenstunde, Bleistift, Kirgise gesprochen, von der bleibenden Einrichtung seines Lebens (186), von der gewagten, abenteuerlichen Situation, dem Mechanismus des Stiftes und seiner Zerbrechlichkeit. Diese und andere Signifikanten sind Wiederholungen und Umbenennungen in einer Kette von sexuellen Bedeutungsträgern, mit denen der Leser bereits vertraut ist oder aber vorbereitet wird auf ihr erneutes Auftreten in abgewandelter Form, vor allem als zentrales Motiv in Castorps Beziehung zu Clawdia Chachat.
Der Wirklichkeitscharakter dieser episodischen Erzählung wird dadurch gerechtfertigt, dass Castorp in diesem Traum das Stadium des Erkennens erreicht hat. Die Begegnung mit Clawdia Chauchat bewirkt bei Castorp eine Sinnenreizung, die zur Wiederbelebung vergangener Erlebnisse führt und damit zum Erkennen von Madame Chauchat, die in Castorps Vorstellung die Identität von Hippe annimmt. Das Erkennen wird nur möglich, weil es sich an dem orientieren kann, was in Castorp bereits vorgeformt liegt, aber erst des Anreizes bedarf, um die Konturen eines vollständigen Bildes entstehen zu lassen. Dieses Bild der Vergangenheit fungiert nun fortan als der Fixierungspunkt in der Gegenwart. Jedes Mal, wenn Castorp Clawdia Chauchat sieht, ist es ein Wiedererkennen des Urbildes. Im nächsten Traum wird sich zeigen, dass die Imaginationskraft, die im Unterbewußtsein Castorps wirkt, sich von dem "Vorbild", dem vorgeformten Urbild, löst; auf das Stadium des Erkennens folgt das Stadium der schöpferischen Phantasie. Castorp macht also durchaus Fortschritte in der Entwicklung seines Unterbewusstseins, vom infantilen, über den genötigten, den sexuell aktiven bis zum erkennenden Träumer.
Das Bild des Lebens (419).
Wie der Hippe-Traum am Wildbach, so ist auch dieser Traum im fünften Kapitel am Ende des viele Seiten langen Abschnitts “Forschungen” ein Tagtraum. Im ersteren überfällt Castorp der Schlaf nach körperlicher Anstrengung in der Natur und im letzteren nach ermüdender wissenschaftlicher Lektüre auf seinem Balkon, auf dem er “gut verpackt” in seinem “Liegesack” ruht, denn es war inzwischen Winter geworden.
Neben zunehmendem Appetit “beherrschte ihn Schlafsucht, so dass er bei Tage wie an den mondlichten Abenden über den Büchern, die er wälzte … oftmals einschlief, um nach einigen Minuten der Bewusstlosigkeit seine Forschungen fortzusetzen” (412).
Im Abschnitt “Humaniora” waren Castorps Forschungen bereits mit ausführlichen Darlegungen über die Kunst vorbereitet worden. Bei einem Besuch bei Hofrat Behrens sieht Castorp das Porträt von Madame Chauchat und Behrens erklärt ihm, welche wissenschaftliche und künstlerische Kompetenz das Malen dieses Bildes erforderte. Es wird gesagt: “sichtlich war sie mit Gefühl gemalt, aber ungeschadet einer gewissen Süßigkeit, die davon ausging, hatte der Künstler ihr eine Art von wissenschaftlicher Realität und lebendiger Genauigkeit zu verleihen gewusst”. Die gemalte Clawdia Chachat wirkt so lebendig, dass man glaubt, “den unsichtbaren Lebensdunst des Fleisches wahrzunehmen” und den menschlichen Körper zu riechen (392-393).
Angeregt durch sein Gespräch mit Behrens beleben sich dann Castorps mühsam des Nachts auf dem Balkon erworbenen anatomischen und physiologischen Kenntnisse
mit der Vorstellung eines lebendigen Körpers (“der Atemhauch, erwärmt und befeuchtet von den Schleimhäuten des Atmungskanals, mit Ausscheidungsstoffen gesättigt, strömte zwischen den Lippen aus …386). Eingeflochten in das Bild sind Merkmale von Hippe und Chauchat:
Es lehnte, abgesondert von der Kälte des Unbelebten, in seiner Dunstsphäre, lässig, das Haupt gekränzt mit etwas Kühlem, Hornigem, Pigmentiertem, das ein Produkt seiner Haut war, die Hände im Nacken verschränkt, und blickte unter gesenkten Lidern hervor, aus Augen, die eine Varietät der Lidhautbildung schief erscheinen ließ…(419).
Die Erwähnung des Nackens, der Lässigkeit und der Arme lässt an Clawdia Chauchat denken, der schiefe Schnitt der Augen aber ist das "Kirgisen-Kennzeichen" beider.
Nicht näher bezeichnet werden die Geschlechtsmerkmale. Übergeht der Sprecher oder die Phantasie Castorps diesen wichtigen Punkt? Es ist nicht auszumachen, ob es sich um einen männlichen oder weiblichen Körper handelt, es ist ein «Leib, der ihm vorschwebte, dies Einzelwesen und Lebens-Ich» (421). Die imaginäre Entstehung dieses androgynen Körpers beansprucht zwölf Seiten Erzählraum, um schließlich mit Castorps geträumter Umarmung dieses Wesens zu enden.
Er hatte die Seite hinunter gelesen, sein Kinn hatte die Brust erreicht, die Lider waren ihm über die einfachen blauen Augen gefallen. Er sah das Bild des Lebens, seinen blühenden Gliederbau, die fleischgetragene Schönheit. Sie hatte die Hände aus dem Nacken gelöst, und ihre Arme, die sie öffnete und an deren Innenseite, namentlich unter der zarten Haut des Ellenbogengelenks, die Gefäße, die beiden Äste der großen Venen, sich bläulich abzeichneten, - diese Arme waren von unaussprechlicher Süßigkeit. Sie neigte sich ihm, neigte sich zu ihm, über ihn, er spürte ihren organischen Duft, spürte den Spitzenstoß ihres Herzens. Heiße Zartheit umschlang seinen Hals, und während er, vergehend vor Lust und Grauen, seine Hände an ihre äußeren Oberarme legte, dorthin, wo die den Triceps überspannende, körnige Haut von wonniger Kühle war, fühlte er auf seinen Lippen die feuchte Ansaugung ihres Kusses (434).
Das Urbild im Hippe-Traum verwandelt sich zu der Vision eines schönen Körpers, dem “Bild des Lebens”; “die fleischgetragene Schönheit” und die “Ansaugung ihres Kusses” erregt ihn bis zum Orgasmus – “vergehend vor Lust und Grauen”. Das Femininum “ihres” verschafft keine Gewißheit darüber, ob die Schönheit (f.) identisch ist mit Chauchat oder Hippe; “sie” (die Schönheit) ist das Bild (n.) des Lebens.
Castorps sexuelle Bestimmtheit, die die Begegnung mit Clawdia Chauchat verursachte, setzt sich in schöpferische Phantasie um und führt zur imaginären Gestaltwerdung. Es zeugt von der plastischen Erfassung des Vorstellungsgegenstands. Das ästhetische Stadium, das Castorp in diesem Traum erreicht, ist gekennzeichnet von den Merkmalen der Kunst, wie sie im Gespräch mit Behrens über die Plastik bereits erörtert wurden. “Sicher, so eine griechische Venus oder so ein Athlet… es ist wohl im Grunde das Wahre, die eigentlich humanistische Art von Kunst” (395). Die Entwicklung, die Castorp in seinen Träumen durchläuft, ist in diesem Traum zwar noch von sinnlichen Trieben gekennzeichnet, aber er hat durch wissenschaftliche und künstlerische Erkenntnisse – durch die “beschäftigte Angeregtheit seines Geistes” (412) bereits eine höhere Ebene ästhetischen Daseins erreicht.
- Der Schneetraum (738)
Castorps fünfter Traum im Abschnitt “Schnee” gegen Ende des sechsten Kapitels ist beinahe sechs Seiten lang und besteht aus zwei sehr unterschiedlichen Phasen. Ähnlich wie der Hippe-Traum am Wildbach ist der Schneetraum auch ein Tagtraum, er erfolgt ebenfalls in der Natur und ist auch wieder die Folge eines waghalsigen Alleingangs, im zweiten Winter auf dem Berghof. Schon im zweiten Winter, aber erst im sechsten, also vorletzten Kapitel, - dadurch entsteht der Eindruck beim Leser, dass der Schneetraum den Höhepunkt in Castorps Laufbahn und im Roman ausmacht, dabei verbringt Castorp noch weitere sechs Jahre im Sanatorium, die in einem, dem letzten, siebten Kapitel abgehandelt werden.
Der Übergang vom Bewussten zum Unbewussten während Castorps Schneeabenteuer wird gekennzeichnet durch einen Moment, in dem das Gefühl für Zeit und Raum als Orientierungshilfe versagt:
Er stocherte sich zu seiner Orientierung um die Hütte herum und stellte fest, dass er sie von hinten wieder erreicht und also eine gute Stunde lang - seiner Schätzung nach - den reinsten und nichtsnutzigsten Unsinn getrieben hatte. (734)
Die Verwirrung des Zeit- und Raumgefühls vermischt sich mit der Verwirrung des Geistes. Die Ursache für diese Zersetzung ist Intoxikation:
“Da ist ein Mißgriff begangen worden", erkannte er. "Der Portwein war nicht das Rechte, die wenigen Schlucke haben mir den Kopf ganz übertrieben schwer gemacht, er fällt mir ja auf die Brust, und meine Gedanken sind unklares Zeug und fade Witzeleien, denen ich nicht trauen darf [...]" (737).
Im Gegensatz zu der schwankenden Wirklichkeitserfahrung im ausklingenden Stadium des Bewusstseins, zeichnet sich der Trauminhalt durch deutliche Konturen und Lebendigkeit aus, wobei die Bilder einander ablösen und an Tiefe gewinnen:
Es war ein Park, der unter ihm lag, unter dem Balkon, auf dem er wohl stand - ein weiter, üppig grünender Park von Laubbäumen (738).
“Balkon” und “wohl” sind die Zeichen der sich verflüchtigenden Castorpschen Wirklichkeit. Unter den Klängen von Musik verwandelt sich eine vertraute (nahe liegende) Landschaft in ihrer heimatlich anmutenden, duftenden Fülle der Laubbäume zu einer entfernten, südlichen, lichtdurchtränkten Mittelmeerbucht mit Palmen und Zypressenhainen. Aus erhöhter Position, jetzt auf “sonnerwärmten steinernen Stufen” (740), dem Unterbau eines Tempeltors, übersieht er ein ausgestrecktes sonniges Gestade, das mit “Menschen, Sonnen- und Meereskindern” (740) bevölkert ist. Wie in seinen früheren Träumen ist Castorp auch in diesem Traum anwesend. Hatte er im ersten Traum das Bedürfnis eines Kindes nach Trost (mit Coldcream), flüchtete er im zweiten Traum aus Angst vor Entdeckung seiner wahren Regungen auf die rotbraune Fahnenstange, überließ er sich im dritten Traum der “Ansaugung des Kusses”, in diesem Traum nun ist er zunächst der souveräne entzückte Genießer: “Er wurde des Schauens nicht satt” (743). Er verweilt in der Haltung des passiven “Unzugehörigen” (743), ist der Betrachter und Belauscher dieses “sonnig-gesitteten Glückes” (743). Obwohl voller Bewegtheit wird dieses ausgedehnte Panorama von Castorp als Bild erfasst. Der stationäre Charakter wird durch Castorps gleichbleibende Position und Blickrichtung bestimmt. Aber durch den Anblick und Blick des «schönen Knaben» ändert sich die Situation:
Und dieser sah ihn [Castorp], wandte den Blick zu ihm hinauf, und seine Augen gingen zwischen dem Späher und den Bildern des Strandes, sein Lauschen belauschend, hin und her” (743).
Das Lauschen belauschend kennzeichnet die abstrakteste Form des Kontakts, bei der alle Körperlichkeit ausgeschlossen wird. Der Ausdruck der “Todesverschlossenheit” (743) im Gesicht des Knaben in dem Moment, als er über Castorp hinweg sieht (“Plötzlich aber blickte er [der Knabe] über ihn hinaus, sah hinter ihn ins Weite” (743), veranlasst Castorp, seine Blickrichtung zu ändern: “Auch er sah rückwärts...” (744). Durch den Blick des Knaben geleitet, gibt Castorp seine Passivität auf – “schweren Herzens stand er auf” (744) - und begibt er sich in den hinter ihm liegenden Tempel. Der ästhetische Zustand des Schauens in “Entzücken” (743) wird durch Nötigung beendet, indem Castorps Sinne durch den schönen Knaben gebannt werden.
War das Panorama voller Leben, so ist der Raum, den Castorp nun durchmisst, gekennzeichnet durch Leblosigkeit; in einem “Hallenwald von Säulen” geht er umher und begegnet zwei “steinernen Frauenfiguren auf einem Sockel, Mutter und Tochter, wie es schien” (744). Abrupt ist der Übergang von der offenen Säulenarchitektur des Tempels zu einer Tempelkammer: “Da stand ihm die metallne Tür der Tempelkammer offen” (744). Der unbewussten Führung des Knaben folgt Castorp bis zu diesem Punkt, dann werden seine Sinne vom Anblick einer anderen, diesmal grausigen Szene gebannt. Er geht nicht hinein in die Tempelkammer, er wird wieder der außerhalb stehende Betrachter: “was er mit Starren erblickte” (745), war das “greuliche Geschäft” der grauen Weiber, das “Blutmahl” (746).
Im ästhetischen Zustand des Grauens verweilt Castorp bewegungslos, bis wiederum über das Gehör der Kontakt mit dem Bild (die Weiber sind “stimmlos”) hergestellt wird. Wie der schöne Knabe nehmen auch die “Greuelweiber” (745) den Späher Castorp wahr und geben sich durch den “Volksdialekt von Hans Castorp” als Vertraute zu erkennen (745). Die ästhetische Ur-erfahrung des Grauens, beendet den Zustand der Erstarrung – “verzweifelt wollte er sich von der Stelle reißen” (745) - und führt zu Castorps Zusammenbruch - an der Säule und gleichzeitig in Castorps Wirklichkeit an seinem Schuppen im Schnee (745).
Die Phasen dieses ersten Teiles des Schneetraums, sind gekennzeichnet vom Wechsel der Bilder, die im Traum Kontur annehmen und die beiden Urformen ästhetischen Erlebens, des Entzückens und des Grauens, bewirken.
Die zweite Phase des Schneetraums ist die Reaktion von Castorps Unterbewusstsein auf das, was er in der Tiefe des Unbewussten träumend in Bildern, die seine mythologische Zugehörigkeit konkretisierten, gesehen hat. In der Literaturkritik und nicht zuletzt von Thomas Mann selbst , ist Castorps Interpretation seines eigenen Traumes als der Höhepunkt in Castorps geistiger Entwicklung und als Quintessenz der Bedeutung des ganzen Romans bewertet worden. Dabei wird jedoch nicht genügend in Betracht gezogen, dass Castorp auch in dieser Phase des Schneeabenteuers noch nicht bei vollem Bewusstsein ist:
Es war jedoch kein rechtes und eigentliches Erwachen; er blinzelte nur, erleichtert, die Greuelweiber los zu sein, doch war es ihm sonst wenig deutlich, noch auch sehr wichtig, ob er an einer Tempelsäule liege oder an einem Schober, und er träumte gewissermaßen fort, - nicht mehr in Bildern, sondern gedankenweise, aber darum nicht weniger gewagt und kraus (745).
Die Zeugenschaft beim “sonnig-gesitteten Glück” (743) und beim Blutmahl bewirkt in Castorp nicht, im Sinne Settembrinis, den Glauben an eine vernünftige, auf die Zukunft gerichtete Ordnung der Lebensphänomene, und nicht, im Sinne Naphtas, die Wollust des Geistes an der Abtötung der Natur, vielmehr ist der Genius in Castorp gefahren, er “fabelt” (750) in biblischen Sentenzen:
Der Mensch ist der Herr der Gegensätze, sie sind durch ihn, und also ist er vornehmer als sie. Vornehmer als der Tod, zu vornehm für diesen, das ist die Freiheit seines Kopfes. Vornehmer als das Leben, zu vornehm für dieses, - das ist die Frömmigkeit in seinem Herzen. Da habe ich einen Reim gemacht, ein Traumgedicht vom Menschen. Ich will dran denken. Ich will gut sein. Ich will dem Tode keine Herrschaft einräumen über meine Gedanken! (748)
In einem nicht bewussten Akt der Kreativität wird Castorp zum Dichter. Durch Wiederholung (und Kursivdruck!) wird dieser Reim, das Traumgedicht, sichergestellt und diese Äußerung, dieser Akt der bewussten Artikulation seiner halbbewussten Gedanken führt zum Erwachen:
Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. Und damit wach' ich auf...Denn damit hab' ich zu Ende geträumt und recht zum Ziele. Schon längst hab' ich nach diesem Wort gesucht: am Orte, wo Hippe mir erschien, in meiner Loge und überall. Ins Schneegebirge hat mich das Suchen danach auch getrieben. Nun habe ich es. Mein Traum hat es mir deutlichst eingegeben, dass ich's für immer weiß (748-749).
Im Vergleich mit seinen früheren Träumen, auf die Castorp hier selbst verweist (“wo Hippe mir erschien”, “in meiner Loge”) hat Castorp das höchste ästhetische Stadium erreicht; er ist in einem Zustand, in dem das unbewusst Erschaute und halbbewusst Reflektierte sich umsetzt in Worte. Dabei erscheint die Form dieses Gedichts vorgegeben durch die Sprache der Bibel, eine Vorprägung, die dem christlichen Mythos entstammt, und die in Analogie zu der Vorprägung der Traumbilder im antiken Mythos steht.
Castorp kann zwar seine Einsicht, zu der dieser schöpferische Akt führt, in seinem Bewusstsein momentan sicherstellen und sich vornehmen, sie nicht zu vergessen, aber dem wirkt die Vergänglichkeit der Freude entgegen, die Castorp aus seinem kreativen Vermögen bezieht, sie ist eine andere Form der Intoxikation:
“Das ist ein Trank, mein Traumwort, - besser als Portwein und Ale, es strömt mir durch die Adern wie Lieb' und Leben” (749).
Die Verflüchtigung dieser belebenden Traumtrunkenheit vollzieht sich bei Settembrinis starkem Kaffee und einem Schläfchen “bei ihm im Stuhle”, in der “hochzivilisierten Atmosphäre des Berghofs” und nicht zuletzt bei der Nahrungsaufnahme – “beim Diner griff er gewaltig zu” (751). Auf die geringe Nachhaltigkeit seiner Erkenntnis, dass Liebe und Güte dem Tod entgegenzusetzen sind, ist oftmals hingewiesen worden, heißt es doch: “Was er geträumt, war im Verbleichen begriffen. Was er gedacht, verstand er schon diesen Abend nicht mehr so recht” (751). Der ethische Gehalt seiner Sentenz, der zumeist als das vielversprechende Anzeichen von Castorps fortgeschrittener Entwicklung und Bildung interpretiert wird, ist ebenso kurzlebig wie der einmalige, vorübergehende Zustand ästhetischer Verwirklichung als Dichter und Denker.
«L'après-midi d'un faune». (979)
Im Abschnitt Schnee gehen verschiedene Denkbereiche eine Fusion ein und nehmen eine unbegrenzte Dimension an, in die die Tiefe des Unbewussten, die Höhe sich artikulierender Erkenntnis und die Weite des Mythos einbezogen sind. Im Vergleich damit bedeutet Castorps letzter Traum eine Entpersönlichung und Reduzierung auf das Ich im Urzustand ästhetischen und zugleich animalischen Daseins.
Castorps Musikleidenschaft wird erst nach dem Tod Joachims und Peeperkorns und nach der Abreise von Clawdia Chauchat geweckt, zeitlich und kausal begründet durch Anschaffung einer Musiktruhe für die Gesellschaftsräume des Berghofs (Fülle des Wohllauts; 963). Wie die früheren Träume in den Abschnitten “Hippe”, “Forschungen” und “Schnee” wird auch der Faun-Traum Castorps ausgelöst, während er in Missachtung des vorgeschriebenen Tagesprogramms einer Aktivität im Alleingang nachgeht. Seiner Musikleidenschaft frönt Castorp am Abend, wenn alle Patienten bereits ins Bett gegangen sind; allein im Salon, erschließt sich Castorp - mit dem “Schlüssel des Schränkchens” (973) - die “Wunder der Truhe” (974).
Die Musikstücke, die Castorp sich anhört, versetzen ihn in ein anhaltendes Stadium der Entrückung, aber bei einem bestimmten Musikstück “französischen Ursprungs”, - “L'après-midi d'un faune” von Claude Débussy - gleitet er hinüber in das Reich der Träume. Er sieht sich auf einer sommerlichen Wiese in der Gestalt eines Faun, Bocksbeine und ein Blasinstrument sind die Zeichen seiner mythologischen Herkunft.
Seine Hände fingerten, nur zu seinem eigenen Vergnügen, da die Einsamkeit über der Wiese vollkommen war, an einem kleinen Holzgebläse, das er im Munde hielt, einer Klarinette oder Schalmei, der er friedlich-nasale Töne entlockte….. Doch war sein beschauliches und unverantwortlich-halbmelodisches Dudeln nicht lange die einzige Stimme der Einsamkeit. Das Summen der Insekten in der sommerheißen Luft über dem Grase, der Sonnenschein selbst, der leichte Wind, das Schwanken der Wipfel, das Glitzern des Blätterwerks, - der ganze sanft bewegte Sommerfriede umher wurde gemischter Klang …….Die symphonische Begleitung trat manchmal zurück und verstummte; aber Hans mit den Bocksbeinen blies fort und lockte mit der naiven Eintönigkeit seines Spiels den ausgesucht kolorierten Klangzauber der Natur wieder hervor, - welcher endlich nach einem abermaligen Aussetzen, in süßer Selbstübersteigerung, durch Hinzutritt immer neuer und höherer Instrumentalstimmen, die rasch nacheinander einfielen, alle verfügbare, bis dahin gesparte Fülle, für einen flüchtigen Augenblick, dessen wonnevoll-vollkommenes Genügen aber die Ewigkeit in sich trug. Der junge Faun war sehr glücklich auf seiner Sommerwiese (979-980).
Der flüchtige Augenblick, nicht im faustischen, vielmehr im wertherschen Sinne ein "schöner Augenblick", ist zeit- und raumlos, ein Moment der Selbstgenügsamkeit, in dem die Grenzen zwischen dem Ich und seiner Umwelt aufgehoben sind und Natur und Mensch eine harmonische Einheit formen. Im Unterschied zu den anderen Träumen ist Castorp in diesem Traum allein - keine Sanatoriumgestalten, nicht Clawdia Chauchat oder Hippe, keine Sonnenkinder oder grauen Weiber - und zudem ist er zum ersten Mal in veränderter Gestalt, halb Mensch halb Tier - mit den Beinen, also Hufen, eines Ziegenbocks. Hans Castorp hat sich im Traum seiner Identität mit ihren Vorprägungen des Flachlands und den Erfahrungen des Zauberberglebens entledigt. Es wird ausführlich erklärt, warum Castorp dieses Musikstück besonders schätzt:
Hier gab es kein <Rechtfertige dich!>, keine Verantwortung, kein priesterliches Kriegsgericht über einen, der die Ehre vergaß und abhanden kam. Hier herrschte das Vergessen selbst, der selige Stillstand, die Unschuld der Zeitlosigkeit: es war die Liederlichkeit mit bestem Gewissen, die wunschbildhafte Apotheose all und jeder Verneinung des abendländischen Aktivitätskommandos … (980)
Castorp scheint den ästhetischen Zustand, in den er durch die Musik in den Faun-Traum versetzt wird, zu verstehen. Er genießt es, ungebunden zu sein, im Sinne Schillers frei von der Nötigung der Sinne und der Vernunft. Castorps Gemüt ist in dieser Traumrealität völlig bestimmungslos, er wird nicht in die Vorstellung von bestimmten Erscheinungen gedrängt, stattdessen erfährt er als flötenspielender Pan die schrankenlose Einheit von Ich und Welt. Er betätigt sich schöpferisch, denn sein einfältiges Dudeln - die naïve Eintönigkeit seines Spiels – fügt sich harmonisch in die Vielstimmigkeit der Natur ein. Vom Traumgedicht des Schneeabenteuers bis zur selbstgenügsamen Verspieltheit des Faun ist es ein großer Schritt.
Man könnte die Frage stellen, ob dieses Stadium des Castorpschen Unterbewusstseins eine Steigerung oder eine Nivellierung der Position ist, die er mit seinem humanitätsträchtigen Traumwort Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken erreichte. Aber die Rangordnung dieser so unterschiedlichen Trauminhalte tritt weniger in Erscheinung, wenn sie nicht unter dem ethischen Aspekt, der zumeist im Mittelpunkt der Schneetraum-Diskussion steht, sondern unter dem ästhetischen Aspekt gesehen wird. Nach Nietzsche wäre der Schneetraum eine Manifestation des Apollinischen, als das durch Selbsterkenntnis in Maß und Form Gebundene, und der Faun-Traum eine Manifestation des Dionysischen, das in einer rauschhaften Daseinslust die Selbstentäußerung feiert.
Eine solche Etikettierung würde zwar für die Stadien dieser beiden letzten Träume zutreffen, aber sie würde nicht der Entwicklung gerecht werden, die sich in der Zusammenschau aller sechs Träume abzeichnet. Im Bereich des Unbewussten und Unterbewussten zeichnet sich ein "Bildungsweg" ab, der zu einem Abschluß führt, während in der Wirklichkeit des Zauberberg-Daseins das Konzept Bildung mit dem Selbstmord Naphtas und dem Dahinsiechen Settembrinis in Frage gestellt wird.
In seiner Abhandlung "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" (1795) schreibt Schiller, der ästhetische Zustand setze die Freiheit des Gefühls voraus, das heiße, das Empfinden unterliege nicht der Nötigung der Natur, und er setze Freiheit des Denkens voraus, es unterliege also nicht der Eingrenzung der Vernunft. Schiller weist auf den doppelten Zustand der Bestimmung hin, in dem sich das Gemüt befinde:
Jenes ist bloße Bestimmungslosigkeit (es ist ohne Schranken, weil es ohne Realität ist); dieses ist die ästhetische Bestimmbarkeit (es hat keine Schranken, weil es alle Realität vereinigt).
Eben dieser doppelte Zustand des Gemüts kennzeichnet Castorps Verfassung in seinen Träumen. Im Zauberberg wird die Möglichkeit des ästhetischen Zustands in den Bereich des Unbewussten verlegt, in dem die Voraussetzung, ohne Realität zu sein und alle Realität zu vereinigen von vornherein gegeben ist. In seinem ersten Traum, als Castorp noch im Stadium der Kindlichkeit mit Lachen und Weinen auf die «krausen» Wiederspiegelungen seiner gerade gewonnenen Eindrücke reagiert, befindet sich Castorp in diesem doppelten Zustand der Bestimmung – alles und nichts ist real. Der nächste Traum aber trägt bereits Anzeichen seiner triebhaften Bestimmbarkeit, sein Empfinden unterliegt der Nötigung der Natur, wenn aus dem Wirrwarr der Traumerscheinungen das Bild der Bleistiftleihe mit Clawdia Chauchat Kontur annimmt und Castorps Bestimmungslosigkeit aufgehoben wird durch den Drang, dieses Bild festzuhalten und vor seiner Entdeckung zu fliehen (im Erklettern der Fahnenstange).
Der Traum von Hippe und die Vision vom «Bild des Lebens» lassen erkennen, daß die Bestimmbarkeit seiner Gefühle im Sexuellen, oder besser gesagt im Bi-sexuellen liegt. Im Traum vom «Bild des Lebens» aber unterliegt seine Bestimmbarkeit nicht nur der Nötigung der Natur, sondern auch der Eingrenzung der Vernunft. In diesem Stadium der ästhetischen Existenz verbinden sich in Castorps Unterbewusstsein die Ergebnisse seiner Forschungen (“Was war das Leben?”) mit den Ergebnissen künstlerischen Schauens (der "lebenden Skulptur" der Schönheit). In diesem Traum erreicht Castorp bereits eine Einheit von Empfinden und Vernunft, die verglichen mit der Kindlichkeit seines ersten Traumes von den Fortschritten seiner ästhetischen Erziehung zeugt. Aber die Herstellung dieser Einheit basiert in dieser Phase noch auf Castorps Bestimmbarkeit durch die Nötigung seines Denkens und seiner Sinne. Im Schneetraum scheint sich dann diese Nötigung zu verflüchtigen: der schöne Knabe ist zwar der Auslöser, dessen Blick Castorps Bewegung hervorruft und lenkt, aber er ist nicht mehr die Ursache, - wie anfangs Hippe und Chauchat - die der Entstehung der Bilder vom sonnigen Gestade und vom Blutmahl zugrundeliegt. Die Nötigung liegt in dieser Phase des ästhetischen Daseins in dem Entzücken und in dem Grauen, das Castorp in diesem Traum durchlebt. Diese Urformen ästhetischen Erlebens setzen sich durch Reflektion im halbwachen Zustand um in einen kreativen Moment, in dem Castorp das Traumgedicht vom Menschen artikuliert. Man könnte sagen, daß Castorp hier das Stadium erreicht, das dem Urbild des sentimentalischen Künstlers entspricht, von dem Schiller sagt, “dieser reflektiert über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen”.
Jedoch ist mit diesem Höhepunkt Castorps Entwicklung als ästhetischer Mensch noch nicht abgeschlossen: Im Faun-Traum erreicht Castorp wiederum den doppelten Zustand des Gemüts, der Bestimmungslosigkeit und der Bestimmbarkeit, jetzt jedoch nicht mehr das Stadium der Kindlichkeit kennzeichnend, sondern das Stadium der Entpersönlichung und Vergöttlichung, in dem sich die Vollkommenheit des ästhetischen Zustands wiederspiegelt. Castorp verkörpert nun das Urbild des naiven Künstlers: “ohne etwas in seinem Gefühl zu unterscheiden, freut er sich zugleich seiner geistigen Tätigkeit und seines sinnlichen Lebens”.
Die kreative Beschäftigung des Faun (auf der Flöte blasen) ist der Ausfluß der Einheit von geistiger Tätigkeit und sinnlichen Erlebens in einem Zustand des unreflektierten Spiels. Schiller sagt dazu: “Aber was heißt denn ein bloßes Spiel, nachdem wir wissen, dass unter allen Zuständen des Menchen gerade das Spiel und nur das Spiel es ist, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet?”
Über die Losgelöstheit ästhetischen Daseins von den “Übungen”, die das Leben vorschreibt, sagt Schiller:
Alle andere Übungen geben dem Gemüt ein besondres Geschick, aber setzen ihm dafür auch eine besondere Grenze; die ästhetische allein führt zum Unbegrenzten. Jeder andere Zustand, in den wir kommen können, weist uns auf einen vorhergehenden zurück und bedarf zu seiner Auflösung eines folgenden; nur der ästhetische ist ein Ganzes in sich selbst, da er alle Bedingungen seines Ursprungs und seiner Fortdauer in sich vereinigt. Hier allein fühlen wir uns wie aus der Zeit gerissen; und unsre Menschheit äußert sich mit einer Reinheit und Integrität, als hätte sie von der Einwirkung äußrer Kräfte noch keinen Abbruch erfahren.
Die Zusammenschau der Träume gibt zu erkennen, daß Castorp im Bereich des Unbewußten durchaus einen "Bildungsweg" durchläuft, der aber im Gegensatz zu seinem Bildungsweg in der Wirklichkeit des Sanatoriumlebens unter positivem Vorzeichen steht. Die pädagogischen Versuche seiner Mentoren Settembrini und Naphta, ihn zu ethisch-religiös verantwortbarem Handeln zu verpflichten, mißlingen. Castorps «Abenteuer im Fleische und Geist» (994) aber bleiben darum nicht ohne Eindruck auf seine “Gemütssphäre” (906).
Wie wird nun diese sich im Unbewussten vollziehende Entwicklung zum ästhetischen Menschen in die Wirklichkeit des Geschehens auf dem Zauberg umgesetzt? Wie verwirklichlicht sich Castorps ästhetischer Zustand?
Zu den Musikstücken, die Castorp besonders liebt – “ein fünftes und letztes Stück aus der Gruppe der engeren Favoriten” – gehört Schuberts Lied vom Lindenbaum “Volksgut und Meisterwerk zugleich” (903). Mit musikalischen Erklärungen und in Vorausdeutung von Castorps Ende wird dieses über mehrere Seiten als das “herrliche Lied im Volks- und Kindermunde” und als “Kunstgesang” gepriesen. Das Lied ist “bedeutend”, weil es über sich hinausweist und Ausdruck “einer ganzen Gefühls- und Gesinnungswelt” (987) ist und derjenige, der das Lied liebt, wie Castorp es tut, liebt zugleich auch “bewusst oder unberwusst” die Welt, die dieses Lied hervorgebracht hat. Aber in dieser Liebe “zu dem bezaubernden Liede” (988) lag auch etwas “Unerlaubtes”, nämlich die geistige Sympathie mit dem Tode und ihre Ergebnisse der Finsternis (989).
Will man glauben, dass unser schlichter Held nach so und so vielen Jährchen hermetisch-pädagigischer Steigerung tief genug ins geistige Leben eingetreten war, um sich der “Bedeutsamkeit” seiner Liebe und ihres Objektes bewusst zu sein? Wir behaupten und erzählen, dass er es war (987).
Das Lindenbaumlied versetzt Castorp nicht in einen Traumzustand, sondern er erfährt es als eine Antwort auf die Wirklichkeit seines Zauberberglebens mit seinen “Steigerungen, Abenteuern und Einblicken” (987). Es versinnbildlicht Kindheit und Heimat und ist zugleich Gleichnis seiner Liebe und Todessehnsucht. Auf der Bewusstseinsebene ist somit Castorps ästhetische Erziehung mit dem «Lindenbaumlied» abgeschlossen. Mit dessen Gemütssphäre, Ausfluß von Kunst und Natur, kann Castorp sich identifizieren, ohne den doppelten Zustand von Bestimmbarkeit und Bestimmungslosigkeit, den er im Faun-Traum erreicht, bzw. wiedererlangt, aufgeben zu müssen: Den Streit um Leben und Tod wird Castorp am Ende als ästhetischer Mensch bestehen, nämlich im Urzustand ästhetischen Daseins bestimmungslos/bestimmbar –
Was denn, er singt! Wie man in stierer gedankenloser Erregung vor sich hin singt, ohne es zu wissen, so nutzt er seinen abgerissenen Atem, um halblaut für sich zu singen:
Ich schnitt in seine Rinde So manches liebe Wort –
….
Er macht sich auf, er taumelt hinkend weiter mit erdschweren Füßen, bewusstlos singend:
Und seine Zweige rau-schten, Als rie-fen sie mir zu –
Als unbewusst singender Mensch hat Castorp den Höhepunkt des ästhetischen Zustands erreicht. Dem Tode nah und mit der Liebe nicht nur in seinem Herzen (907), sondern auch auf seinen Lippen - wird Castorp schließlich – im schillerschen Sinne - aus den “Übungen” des Lebens entlassen.