"Ich bin sehr scharf im Kopf heute."

Der morbide Frühling. Heteronormativitätskritische Subtexte in "Die Betrogene"

Der morbide Frühling. Heteronormativitätskritische Subtexte in "Die Betrogene"

Oft ist im Kontext von Thomas Mann in Hinsicht auf seine Geschlechterdarstellungen von etwas wie Camouflage gesprochen geworden; in einer (vermeintlich) queer-theoretisch unterfütterten Lesart wurden seine Texte wie etwa „Tod in Venedig“ oder „Der Zauberberg“ als Zeichen für eine homosexuelle Identität des Autors, die sich verstecken musste, gedeutet. Die Stimme der Erzählung und die Stimme des Schöpfers wurde vermengt. Jedoch sind, zurückzuführen auf Manns großes mythologisches und kulturelles Wissen, die Äußerungen seiner Prosa zu Sexualität, die darin aufgezeigten Begehrensstrukturen, Ausdruck kultureller Vielfalt. Sie sind kein ersichtlicher Kommentar zur herrschenden Sexualpolitik. Die symbolische Ordnung, in der seine Texte kodiert sind, übersteigt oft den Erfahrungshorizont der spätmodernen Leserinnen und Leser, so dass es zu identitären Zugriffen kommt, die nicht stimmig sind. Die unmögliche Liebe in „Die Betrogene“ lässt sich als queere Liebe lesen, hat aber nichts mit homosexueller Identität zu tun, sondern entspricht Thomas Manns schon im Frühwerk ersichtlichen mythologisch unterfütterten Zugriff auf Begehren.
Der Text korrespondiert auffällig mit dem 1910 veröffentlichten Roman „Das gefährliche Alter“ („Den farlige Alder“) von Karin Michaelis. Das Buch erregte großes Aufsehen in ganz Europa, weil es tabuisierte Themen wie die sexuellen Wünsche einer Frau, die Mutter eines erwachsenen Kindes ist, gegenüber einem jüngeren Mann thematisiert. Im amerikanischen Kontext entstand ein ähnliches, ebenfalls breit rezipiertes Buch: „The Roman Spring of Mrs. Stone“ („Mrs. Stone und ihr römischer Frühling“) aus der Feder von Tennessee Williams 1950. In der kritischen Lektüre des Textes von Michaelis, den Thomas Mann kannte, und des Buches des Amerikaners lassen sich durch Vergleichsanalyse gerade die Unterschiede herausarbeiten, die für Manns Thematisierung der unmöglichen Liebe, die Rosalie von Tümmler befällt, und für seine Identifikation von sexuellem Erwachen und Todestrieb signifikant sind – und die auf einen mythologischen Subtext verweisen. Dieser Subtext soll sich durch die im Vortrag angeregte Kontrastierung mit zeitgenössischen Werken analogen Inhalts offenbaren. Es geht in meinem Beitrag darum, vom Entstehungskontext abstrahierende, feministische bzw. sozialpolitische Zugriffe auf „Die Betrogene“ zu vermeiden, um Thomas Manns Text ins Licht einer ihm gerecht werdenden Hermeneutik zu stellen.

PD Dr. Katja Kauer hat die venia legendi für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften und ist derzeit Vertretungsprofessorin in der Schweiz. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen u.a. in Gender- und Queer-Studies. Sie interessiert sich für historische Vergleiche, die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und Gegenwartsliteratur. 2019 verfasste sie das Studienbuch "Queer lesen. Anleitung zu Lektüren jenseits eines normierten Textverständnisses". 2023 erschient im selben Verlag (Narr) "Feministisch lesen. Eine Einführung mit Lektüretools und Textbeispielen". In diesem Jahr werden drei paradigmatische Aufsätze herauskommen, in den sie ihre neusten Forschungen vorstellt: Populärdiskurs und Ideologiekritik: Die Polyrythmik in den Werken von Vicki Baum am Beispiel von 'The Weeping Wood/Cahuchu' / 'Strom der Tränen' (1943), "'Die ist irgendwie verknallt in mich.' Ein queer reading von Unterleuten am Beispiel des homosozialen Begehrens zwischen Jule und Linda." und  "The Digital Other als selbstobjektivierende Erzählinstanz".

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