Thomas Mann

Tagungsbericht

„Allerlei außer Gebrauch befindliche und eben darum fesselnde Gegenstände“ – Dingwelten bei Thomas Mann

Die Tagung fand vom 9. und 10. Dezember 2016 in Bamberg statt.

Dr. Tim Lörke

Die von Andrea Bartl, Professorin an der Universität Bamberg, und Franziska Bergmann, Junior-Professorin an der Universität Trier, organisierte Tagung zu Dingwelten im Werk Thomas Manns widmete sich einem in den letzten Jahren vieldiskutierten Forschungsfeld, das gerade bei Thomas Mann reichhaltiges Anschauungsmaterial vorfindet. Umso mehr verblüfft es, dass die Thomas-Mann-Forschung sich bislang noch nicht intensiv damit auseinandergesetzt hat. Dieses Desiderat zu erfüllen, war das Ziel der dreizehn Vorträge.

Der in den 1980er Jahren vollzogene material turn der Kulturwissenschaften rückt die den Menschen umgebenden Dinge in den Mittelpunkt, um besondere Handlungskonstellationen zwischen Mensch und Ding zu erforschen. In das Forschungsprogramm fließen kapitalismustheoretische Fragen ebenso ein wie die Problematisierung überkommener Dichotomien wie der Subjekt-Objekt-Trennung. Dabei wird die intuitive Beziehung zwischen Mensch und Ding durchaus hinterfragt und umgekehrt, indem herausgestellt wird, wie auch Dinge den Menschen formen. Dingen kommt in dieser Perspektive mitunter sogar eine eigene Handlungsmacht zu. Entsprechend betonten Andrea Bartl und Franziska Bergmann in ihrer Einführung, dass die Literaturwissenschaften Dinge traditionell meist in ihrer symbolisch-metaphorischen Bedeutungsdimension betrachten – die Tagung jedoch fragte gerade nach Dingen als Akteuren, die Ideen stiften und transportieren.

Darin liegt eine Herausforderung nicht allein für die Literaturinterpretation, sondern auch für die Darstellung von Dingen und Texten in Museen, wie Birte Lipinski (Lübeck) betonte. Ausgehend von dem Widerspruch zwischen Museen als Metaphern für das Unbelebte, Verstaubte und Erstarrte und den lebendigen, erzählenden Dingen in Texten Thomas Manns, aber auch zu den Thomas Mann selbst umgebenden Dingen, führte sie vor, wie Dinge zum Ausgangspunkt von Erzählungen werden. Für das Museum stellt sich darum die Aufgabe, die Dinge zum Sprechen zu bringen. Dabei anverwandelt sich der Kuratorenblick dem des Dichters auf seine Gegenstände. Durch Kontextualisierung, poetische Vorstellungskraft und das Zueinander-in-Beziehung-Setzen fangen die Gegenstände an, zu sprechen.

Eine solche Kontextualisierung bestimmte den Vortrag von Yahya Elsaghe (Bern). In den Mittelpunkt seines Vortrags rückte er die Luxusartikel, die Felix Krull in Schaufenstern bewundert. Vor dem Hintergrund einer Kulturgeschichte des Schaufensters und der Überlegungen von Karl Marx oder Georg Simmel entwickelte Elsaghe eine Idee vom Warenfetischismus, der Krulls sonntäglichen Schaufensterbummel ersatzreligiös auflädt. Die praktische Bedeutung hob Elsaghe indes auch hervor: Indem Krull gerade Juwelierauslagen intensiv studiert, bereitet er sich auf seine anschließende Karriere als Dieb und Hochstapler vor.

Die nahezu phantastische Dimension der Dinge beschrieb Claudia Liebrand (Köln) in ihrem Vortrag zum Zauberberg. Die dort erwähnten Dinge markieren Übergänge von Leben und Tod: Sie werden belebt durch Inspiration, durch die Be-Hauchung, die in einem Roman über Lungenkranke keine unwichtige Rolle spielt. Die Erzählinstanz des Romans verlebendigt die Dinge, indem sie sie atmen lässt und ihnen Namen gibt: die stumme Schwester, der blaue Heinrich oder die berühmte Maria Mancini, die als bräunliche Schöne eingeführt wird. Nicht zuletzt Hofrat Behrens‘ Porträt von Frau Chauchat mit der detailliert-akkurat gemalten Haut wird nahezu lebendig und erlaubt Hans Castorp den zärtlich-betrachtenden Umgang mit ihr.

Stefan Börnchen (Köln) stellte Thomas Mann als Erzähler auch alltäglicher Dinge vor und unternahm in seinem Vortrag einen Gang ins Instrumentenlager von Adrian Leverkühns Onkel. Die gelagerten und gerade nicht benutzten Instrumente deutete er ebenso als Verweis auf die spätere NS-erzwungene Lautlosigkeit Adrians wie das Nicht-Singen von Adrians Mutter, die ja gleichwohl eine schöne Stimme hat. Das gemeinsame Kanonsingen mit der Stallmagd inmitten des Schweinekobens rückt in Börnchens Lesart Menschen, Tiere und Dinge in ihrer Ähnlichkeit zusammen und entwirft so zugleich eine Ethik des Mitleids.

Eine ähnliche Konstellation beschäftigte Frank Weiher (Düsseldorf) in seinem Beitrag. Ausgehend von Grammophon und Schallplatten im Zauberberg, beides eigentlich unbelebte Dinge, zeigte Weiher, dass in ihrem Wohllaut die Dinge nicht länger unbelebt sind, sondern sich zu lebendiger und darum anrührender Kunst erheben. Vor allem interessierte ihn die symbolische Verschiebung zwischen Ding und Mensch. So wie die Schallplatte für den tatsächlichen Gesang eines Menschen einsteht, symbolisiert der von Frau Chauchat geliehene Crayon für Hans Castorp die erotische Erfüllung und wird erst in dem Moment entbehrlich, als diese tatsächlich erreicht wird.

Wie Dinge eine personale Identität konturieren, ja erst konstruieren, demonstrierte Gabriela Wacker (Tübingen) in ihrem Vortrag über Beim Propheten. Der quasi-sakrale Raum des Propheten zeigt sakrale und profane Dinge in bunter Mischung. Solange der Prophet selbst abwesend ist, fungieren die Dinge als seine Stellvertreter und zeigen die verschiedenen Aspekte seiner Persönlichkeit. In ihrer spezifischen Mischung verraten sie aber zugleich die Hohlheit seiner Prophetie; das Sakrale und das Profane stoßen aneinander.

Die emotionale Bedeutung eines Dings als Liebesgabe stand im Zentrum von Yvonne Al-Taies Lektüre von Thomas Manns Lotte in Weimar. Die geschenkte Schleife und der Scherenschnitt werden zu Reliquien zwischen Geliebten und substituieren die abwesende oder unerreichbare Geliebte. Doch gerade das unbelebte Objekt, das als Ersatz für die Person einsteht, wird im Roman zum Ausgangspunkt der Kunst. Und umgekehrt wird in der späteren Begegnung zwischen Charlotte Kestner und Goethe das besondere Lotte-Kleid eingesetzt, um die Identität zwischen der leibhaften Person und der fiktiven Figur zu betonen und zu beglaubigen. Goethe wird auf diese Weise zum Urheber und zugleich zum Opfer seiner Fiktionen.

Auf die zentrale Rolle, die eine Reitpeitsche bei der Hypnose in Mario und der Zauberer spielt, konzentrierte sich der Vortrag von Claudio Steiger (Neuchâtel). Cipolla gelingt die Willensbrechung nur unter Einsatz der Peitsche; die Hypnose als Zwang findet darin ihr Symbol: In der Peitsche bündelt sich der gesamte thematische Komplex der Erzählung. Zugleich wird ihr vom Text selbst Handlungsmacht zugeschrieben: Denn die Hypnose gelingt nur, weil die Peitsche benutzt wird.

Dass Dinge etwas bedeuten können, es aber nicht müssen, bildete den Ausgangspunkt der Überlegungen von Iris Hermann (Bamberg). Sie erkennt in den Beschreibungen des Doktor Faustus ein Fest der Dinge, sei es bei der Beschreibung der bäuerlichen Kindheitswelt Adrians oder aber der Beschreibung der Instrumente. Stets rückt die Funktionalität der Dinge in den Hintergrund, während ihre materiale Beschaffenheit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Auch Hermann betonte, dass Thomas Mann Dinge und Menschen immer wieder eng zusammenführt: Dinge beschreibt er wie schöne Menschen.

Helmut Koopmann (Augsburg) musterte die Kleidung der Buddenbrooks. Ihre Zeit und Zeitverbundenheit sind präsent in ihren Kleidern, und die Kluft zwischen Vätern und Söhnen ist deutlich wahrnehmbar in den unterschiedlichen modischen Stilen. Wobei Koopmann deutlich herausstrich, dass Modebewusstsein kein gutes Zeichen sei: Je maroder die Innenwelt, desto glänzender ist der äußere textile Anstrich. Kleidung ist identitätsstiftend, annonciert den sozialen Rang. Vor allem aber sagt Kleidung etwas aus über das Verhältnis ihres Trägers zur Vergangenheit.

Ein Ding in seiner existentiellen Bedeutsamkeit stellte Marta Famula (Paderborn) vor. Es ist die Schinkensemmel, die dem jungen Autor als Vision beim Propheten erscheint. Die Situation einer sakralen Epiphanie im Moment eines spirituellen Hungers, auf die der Prophet hinauswill, bricht sich in der mystischen Gestaltwerdung eines das Wesentliche betreffenden Hungers. Der Blick auf weitere Schinkensemmeln in Der Zauberberg und Die Betrogene zeigte, wie das Ding eine Verbindung herstellt zwischen Wünschen und Lebenskonzepten.

Einem dichterischen Text als Ding widmete sich Thomas Wortmann (Mannheim), als er das Verhältnis eines Autors zu seinem Manuskript in Das Eisenbahnunglück untersuchte. Das Manuskript gilt seinem Urheber als etwas nahezu Lebendiges, wenn er davon als Bienenstock und Fuchsbau spricht. Der Autor imaginiert sich in dieser Begriffsverwendung als Tier, das darin wohnt. Entsprechend  gewichtig erscheint deshalb sein Verlust durch das Unglück.

Der abschließende Vortrag von Sebastian Zilles (Siegen) betrachtete gendered objects, also Dinge, die auf historische Geschlechtercodierungen verweisen. In Thomas Manns Roman Königliche Hoheit fand er eine ganze Reihe solcher Objekte. Da ist etwa der Purpurmantel, den Klaus Heinrich trägt und der als männlich codiertes Kleidungsstück auf die patrilinear geregelte Erbfolge hindeutet. Er ist aber fadenscheinig geworden, und sein starker Kampferduft verrät, wie veraltet und überholt die Ordnung im Fürstentum längst ist. Darum passt er hervorragend zu Klaus Heinrich, der die überkommene Identität als regierender Monarch eines vor dem finanziellen Kollaps stehenden Landes zu verändern und zu modernisieren hat.

Eindrucksvoll bestätigte die Tagung das Forschungspotential der material studies, die einerseits neue Perspektiven auf das Werk Thomas Mann eröffnen, sich anderseits aber mit dem bisherigen Wissen über Thomas Mann hervorragend ergänzen.

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